© des Titels »Verspielt nicht eure Zukunft« von Hans-Werner Sinn (978-3-86881-486-6)
2013 by Redline Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
Nähere Informationen unter: http://www.redline-verlag.de
Verspielt
nicht eure
Zukunft!
Hans-Werner Sinn
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Vorwort
Zehn Jahre ist es her: Im Jahr 2003 wurde die für unser
Land so einschneidende Agenda 2010 beschlossen.
Die Agenda-Gesetze waren umstritten, und sie sind es
teilweise noch. In jedem Fall aber waren und sind sie
erfolgreich – auch wenn Diskussionen darüber, wo sie
Unerwünschtes bewirken und wie dies zu beseitigen
wäre, unbedingt zu führen sind.
In etwa zeitgleich mit dem Agenda-Aufbruch erschienen
die ersten Auflagen des Reformbuches Ist Deutschland
noch zu retten? von Hans-Werner Sinn, Präsident
des renommierten ifo Instituts für Wirtschaftsforschung.
Auch Sinns Buch war erfolgreich, es wurde
zum Verkaufsrekorde brechenden und mehrfach
preisgekrönten Bestseller. Ein Zufall ist das wohl nicht,
denn mit der Agenda 2010 hatte Sinn mehr zu tun, als
viele wissen. Wolfgang Wiegard, ehemals Mitglied des
Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen
Lage, beschrieb Hans-Werner Sinns Vorarbeiten
in einem Leserbrief an den Spiegel als
»intellektuelle Grundlage der Agenda 2010«. Spätestens
seit dieser Zeit ist Sinn eine breit wahrgenomme8
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Vorwort
ne öffentliche Person, der mit ihrer unbestechlichen
ökonomischen Fachkompetenz zugehört wird, die als
streitbar gilt und manchmal auch aneckt. Für eine
fruchtbare Diskussion in Öffentlichkeit und Politik ist
diese Kombination unverzichtbar.
Vor zehn Jahren war ich Hans-Werner Sinns Verleger.
Nun, genau eine Dekade nach dem von ihm mitfundierten
Agenda-Reformschub, wollte ich von ihm
wissen, wie er unsere wirtschaftliche Entwicklung
seither einschätzt und wo wir heute reformerisch aktiv
werden müssen, um auch morgen und übermorgen
gut leben können. Diese Fragen schienen mir
mehr als berechtigt. Denn auf den ersten Blick mag
es uns derzeit im Vergleich zu unseren europäischen
Freunden gut gehen. Doch nur dies wahrzunehmen,
ist trügerisch. Zugleich nämlich jagt eine Krise die
nächste. Einige der Krisen treten deutlich zutage,
etwa die europäische Finanzkrise. Andere schleichen
sich unspektakulärer ins Bewusstsein, etwa die Krise
der Alterssicherungssysteme, die Krise um die sogenannte
Energiewende, die Krise des nachlassenden
Vertrauens in unsere Politiker, in die Sinnhaftigkeit
einer dezentral gelenkten Marktwirtschaft, in unse9
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Vorwort
re demokratischen Institutionen und anderes mehr.
Braucht es also eine neue »Agenda« – wie auch immer
man sie dann nennen würde? Und welche Themen
müsste sie angehen? Dieses kompakte Büchlein
ist kein wissenschaftliches Werk, sondern auf eine
ganz andere Art und Weise sehr fundiert, sehr kämpferisch
und sehr persönlich zugleich. Denn es ist das
Ergebnis mehrerer längerer Gespräche, die ich mit
dem Autor im Winter 2012/2013 habe führen können.
Diese interviewhaften Gespräche hatten den
Vorteil, dass sie den Leser, vertreten durch mich, dort
abholten, wo er sich gedanklich befinden könnte.
Im Anschluss gab es eine Niederschrift, in der Themen
geordnet wurden, und danach fanden zahlreiche
gründliche Überarbeitungen und Ergänzungen
durch den Autor statt. Einerseits blieb so die Dynamik
und emotionale Lebendigkeit des persönlichen
Gesprächs erhalten, andererseits wurden die rationalen
Argumente vertieft. Daraus entwickelte sich eine
Bestandsaufnahme wichtiger Herausforderungen,
vor denen Deutschland heute steht. Natürlich gehört
dazu auch unbedingt die Bewältigung der Eurokrise.
Wir entschieden uns jedoch, in diesem Buch die europäische
Finanzkrise und die Zukunft Europas nur
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Vorwort
am Rande zu streifen. Nicht weil diese Themen nicht
wichtig und dringlich wären – das Gegenteil ist der
Fall –, sondern weil Hans-Werner Sinn sich ihrer im
Herbst 2012 mit seinem breit diskutierten Werk Die
Target-Falle bereits gründlich angenommen hatte.
Wir konzentrierten uns stattdessen auf jene wichtigen
Reformhausaufgaben, die unser Land auch ohne
seine europäischen Partner selbstverantwortlich und
zeitnah angehen wollte und die infolge der Eurokrise
zu sehr aus dem Blick geraten sind. Zu nennen
sind etwa die gezielte Weiterentwicklung der Agenda
2010, das Fiasko der sogenannten Energiewende,
die Überwindung der Diskriminierung von Familien,
Müttern und Kindern, der demografisch induzierte
drohende Fachkräftemangel, die Eindämmung des
massiv anschwellenden Zuwanderungsstroms, der
unseren Sozialstaat bedroht, oder das Unvermögen
unserer Politik, langfristig tragfähige Entscheidungen
zu treffen. En passant entstanden so erste Konturen
eines neuen wirtschafts- und sozialpolitischen »Zukunftsprogramms
für Deutschland«. Es wird Zeit,
dass wir die darin formulierten Herausforderungen
fester in den Blick nehmen und dabei nicht mehr nur
»auf Sicht« fahren.
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Vorwort
»Verspielt nicht unsere Zukunft«, ruft uns Hans-Werner
Sinn mit diesem Buch zu: fachlich gewohnt versiert
und kämpferisch, exakt auf den Punkt gebracht
und verfasst mit dem Willen zu Aufklärung und Einmischung.
Sinn bezieht teils unbequeme Standpunkte
und ergreift Partei für das aus seiner Sicht politisch
Richtige. Und doch ist er kein Mitglied einer politischen
Partei und als Professor und Präsident eines
staatlich geförderten Forschungsinstituts unabhängig
und keinen wirtschaftlichen Einzelinteressen verpflichtet.
Er äußert sich als Wissenschaftler und als
engagierter Bürger, dem das Schicksal des Landes und
seiner Menschen am Herzen liegt. Seine Meinungen
sind sachlich und wissenschaftlich begründet, und sie
decken sich mit dem gesunden Menschenverstand.
Dass sie sich nicht immer mit dem decken, was heute
Mehrheiten in Politik, Medien und Gesellschaft denken
mögen, ist die Basis der intensiven Diskussion, die
dieses Büchlein anstoßen will.
Jens Schadendorf
Co-Herausgeber der »Edition Debatte« im Redline Verlag
München, im April 2013
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Aufrütteln und verändern
Herr Sinn, Sie gelten hierzulande nicht nur als einer der
einflussreichsten Ökonomen, sondern auch als ein die
Vernunft beschwörender Mahner und Aufrüttler. Politiker
in Berlin und anderswo wollen Ihre Ratschläge dennoch
nur allzu oft vom Tisch wischen ...
Unabhängig davon, was Politiker mit meinen Vorschlägen
machen: Ich bin primär der deutschen Öffentlichkeit,
also den Bürgern verpflichtet. Als Hochschullehrer
und Präsident des ifo Instituts verdanke ich ihnen über
die von ihnen gezahlten Steuern auch mein Gehalt.
Wenn ich also informiere, aufkläre und aufrüttle, wie
Sie sagen, so tue ich das nicht als Selbstzweck. Es ist
mein Auftrag, mich zur Wirtschafts- und Finanzpolitik
öffentlich zu äußern und Debatten zu initiieren und zu
führen, wo ich es für sinnvoll halte. Betriebswirte helfen
Betrieben und Volkswirte Völkern. Ich bin Volkswirt
– in Diensten der deutschen Bürger und dem Ziel
der guten Nachbarschaft in Europa verpflichtet.
Die Wirtschaftspolitik ist dabei der Kern meines Forschungsfeldes
»Finanzwissenschaft«, und genau hier
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Aufrütteln und verändern
habe ich zu informieren und aufzurütteln. Die Finanzwissenschaft
beschäftigt sich nicht vorrangig mit der
Finanzwirtschaft, wie man vielleicht meinen könnte,
sondern mit dem Staat und der Gesellschaft. Es handelt
sich um einen historischen Begriff, der auf die
staatlichen Finanzen statt auf die privaten abstellt. Finanzwissenschaft
ist, vereinfacht ausgedrückt, die Lehre
davon, was der Staat in einer Marktwirtschaft wie der
unseren tut und tun sollte – also die Lehre davon, wo
staatliche Eingriffe in das Marktgeschehen richtig sind
und wo nicht. Es geht darum, die Grenzlinie zwischen
Staat und Markt zu ziehen und sinnvolle von unsinniger
Staatsintervention zu unterscheiden sowie die geeigneten
Instrumente für die staatliche Wirtschaftspolitik
zu finden. Das Geschäft des Finanzwissenschaftlers,
beziehungsweise des Volkswirtes im Allgemeinen, ist
es also, die Marktfehler zu analysieren, darauf aufbauend
sinnvolle Regulierungssysteme zu entwickeln und
umgekehrt auch falsche Regulierungen zu kritisieren.
Und daher frage ich heute: Was ist für die Menschen in
Deutschland die richtige Wirtschaftspolitik? In Bezug
auf den Euro, in Bezug auf den Arbeitsmarkt, in Bezug
auf die Sicherheit der Rentenkassen, in Bezug auf die
Banken, in Bezug auf die Umwelt und viele andere
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Aufrütteln und verändern
zentrale Bereiche. Es ist meine Verantwortung, diese
wissenschaftlich begründbaren Erkenntnisse auch in
die Öffentlichkeit zu tragen, in der Hoffnung, dass meine
Argumente im politischen Prozess benutzt werden
und zu einer rationaleren, zu einer besseren, langfristig
tragfähigen Politik beitragen.
Das ist mein Anspruch. Das ist meine Hoffnung. Das
ist auch meine Leidenschaft. Allerdings habe ich nicht
die Illusion, dass meine Vorschläge im Politikbetrieb
immer willkommen sind oder gar umgesetzt werden.
In der Politik sind Interessen und Kräfte im Spiel, die
den besten Argumenten oft nicht zuträglich sind. Dabei
sind manche Argumente, die ich vorbringe, wissenschaftlich
betrachtet unabweisbar, und sie müssten
daher im Grunde sofort zu einer Politikänderung
führen. Das tun sie aber nicht. Auch wenn ich die andersartige
Logik des politischen Geschehens in Berlin,
Brüssel und anderswo verstehe, stört mich die Ignoranz
vieler Politiker gegenüber rational fundierten ökonomischen
Argumenten. Sie macht mich ungeduldig –
denn genauso, wie ich mich selbst als Wissenschaftler
in der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft sehe,
so sehe ich Politiker in einer solchen Verantwortung.
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Aufrütteln und verändern
Der Grund für die Beratungsresistenz der Politik liegt
darin, dass die Politiker andere Beschränkungen und
Ziele ihres Handelns berücksichtigen, als der Ökonom
oder auch der Jurist bei seinen Politikempfehlungen
legitimerweise berücksichtigen darf. Für einen Politiker
ist der ökonomische oder juristische Sachzwang
nur eine Beschränkung unter vielen. Er will, dass seine
Partei wiedergewählt wird, er will die Opposition
ausstechen, er will, dass bestimmte Themen gar nicht
erst in der Öffentlichkeit problematisiert werden, er
will nicht beim nächsten Gipfeltreffen der EU kämpfen
müssen und Prügel einstecken und, und, und… Das ist
auch für einen Wissenschaftler nachvollziehbar, aber er
darf solche Beschränkungen bei seinen Politikempfehlungen
trotzdem nicht berücksichtigen, denn es geht
schließlich um das Wohl der Bürger und nicht um das
Wohl der Politiker oder der Parteien. Ökonomen und
Juristen wie etwa der vielzitierte »Professor aus Heidelberg
« werden von der Politik deshalb häufig als störend
empfunden. »Jetzt kommen die also auch noch
mit ihren Sachzwängen, als hätte man nicht genug Sorgen
am Hals!«, wird sich manch ein Politiker denken,
wenn sich wieder einmal ein Wissenschaftler mit unbequemen
Wahrheiten zu Wort meldet.
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Aufrütteln und verändern
Das ist der Grund dafür, dass viele Politiker solche
Ökonomen und Juristen nicht mögen, die ihren selbst
gesetzten Beschränkungen der Handlungsspielräume
nicht das gleiche Gewicht zu geben bereit sind wie sie
selbst. In der Krise zeigt sich das besonders deutlich.
Der Politik genehm sind Wissenschaftler, die sich,
entweder mangels eigener analytischer Kraft oder
aus Karrieregründen, wohlfeil der normativen Kraft
des Faktischen beugen und der Regierung helfen, die
selbst gesetzten roten Linien zu verschieben, damit
man sie nicht überschreiten muss. Nicht oder weniger
willkommen ist dagegen der Rat jener Wissenschaftler,
die unnachgiebiger sind – zum Beispiel in der Eurokrise,
wenn sie nachweisen, dass die politischen Entscheidungen
die Grundpfeiler des Maastrichter Vertrages
zerstören oder dass eine auf kurzfristige Befriedung
der Kapitalmärkte ausgerichtete Politik langfristig
schädlich ist. Bedauerlich finde ich es, dass politische
Entscheidungsträger häufig kritische Wissenschaftler
nur auf der persönlichen, emotionalen Ebene wahrnehmen
und sie als »streitbar« empfinden, ohne sich
gedanklich mit ihrer Argumentationsführung auseinanderzusetzen.
Indem der Rat solcher Wissenschaftler
nicht angenommen oder zumindest nicht ernsthaft
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diskutiert wird, machen Politiker Fehler, für die wir,
die Bürger, langfristig zu bezahlen haben. Das gilt für
die Politik zur Rettung des Euro – das gilt aber auch für
andere wirtschaftspolitische Aufgaben.
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